Regensburger Tagebuch

Notizen von der nördlichsten Stadt Italiens

Donnerstag, 13. August 2020

Es ist nicht mehr so wie vorher - ein Resumee

Er ist mühsam, mein Weg zurück in die Normalität. Aber ich muss mich zwingen, wieder raus zu gehen. Die letzten Wochen im Mai, Juni, Juli  habe ich mich -  trotz herrlichstem Wetter - ganze Wochenenden zu Hause verkrochen.

Dabei bin ich sonst jede freie Minute in der Altstadt, gehe in Cafes, stöbere in Buchläden, setze mich an einen Brunnen, gehe auf viele Veranstaltungen, oder fahre mit dem Rad drauf los.

Und an freien Tagen oder in den Sommerferien vollziehe ich mein "Palletti-Ritual": statt zu Hause zu kochen, gehe ich dieses geniale Cafe, das seit fast 40 Jahren zu meinen Lieblingswohnzimmern zählt, gönne mir dort ein Mittagessen und lese Kulturjournal, Kunstzeitung und andere Zeitungen von vorne bis hinten durch. Wenn ich Bekannte treffe, gibt es natürlich auch noch einen Ratsch als Dreingabe.


Nach langer Zeit mal wieder: Mittagessen im Palletti (29.07.2020)
 
Nur ganz langsam kommt das alles wieder. So bin ich in den letzten Tagen ab und zu mal alleine und spontan in die Stadt geradelt. Ohne dass jemand ein Treffen organisiert und einen Tisch reserviert hat. Einfach drauf los.

Aber: es ist nicht mehr so wie früher. Das ganze Feeling stimmt nicht mehr.


Der Respekt vor dem Virus ist natürlich der Hauptgrund, wenn auch nicht der einzige. Eigentlich ist es nicht richtig Angst, obwohl ich die haben müsste. Vielmehr bleibt ein mulmiges Gefühl im Hinterkopf.

Dazu kommt aber auch die gesamte Stimmung, die man beim Weggehen spürt. Die Leute sind vorsichtig, distanziert, verunsichert. Die Freisitze sind spärlich besetzt. Wenn man schnell mal in ein Cafe oder Lokal will, muss man an Reservierung denken. Alles ist schwerfälliger. Man muss Namen und Kontaktdaten notieren, was noch geht, aber man muss auch brav warten, bis man einen desinfizierten Platz zugewiesen bekommt.


Das ist schon gut so. Das ist in meinem Interesse, und im Interesse meiner 85jährigen Mutter, um die ich mich regelmäßig kümmere. Aber wenn man alles zusammen nimmt, ist es abturnend.

Abends mal in die Stadt gehen, und sich notfalls irgendwo an die Theke zwängen - im Palletti, in der Filmbühne, im Bodega - geht auch nicht mehr. Zieht man ohne Reservierung drauf los, muss damit rechnen, dass man enttäuscht nach Hause kommt. Von dem Bekannten-Pärchen, das nach drei Stunde frustriert nach Hause kam, nachdem es mal in der Stadt zu Abend essen wollte, habe ich schon vor kurzem erzählt.

Es fehlt mir also der Anreiz, spontan und ungezwungen in die Stadt zu radeln. Ich muss mich eher zwingen.

Veranstaltungen wie Vernissagen, Blaue Nacht und Konzerte ziehen mich auch nicht mehr an. Dabei liebte ich stets die Menge. Ich mag die Stadt. Ich bin ein Stadtmensch, jawohl. Ich kann schon mal alleine Radtouren machen oder mich irgendwo an ein Ufer setzen und stundelang sinnieren. Aber dann will ich wieder Leute sehen.

Einst liebte ich die Menge

Die Ignoranz - das Schlupfloch für den Virus

Ich hoffe nur, der Impfstoff kommt bald.

Aber dann wird es möglicherweise trotzdem noch dauern, bis die Regeln ganz wegfallen.  Es könnte natürlich auch sein, dass die Regeln schnell wegfallen, mit dem Argument: Wer sich schützen will, kann sich ja jetzt impfen lassen, und wer das Risiko eingeht, ist selbst schuld.

Es ist komplizierter, ich weiß.

Noch ist der Impfstoff nicht da. Was bis dahin Sorge macht: es gibt es immer noch diesen beachtlichen Anteil in der Bevölkerung, die den Virus nicht ernst nimmt, die nicht an die Gefahr glaubt. Und diese Leute sind  eine ständige Bedrohung für uns andere, weil sie mit ihrer Sorglosigkeit  Schlupflöcher für den Virus darstellen.

Ich denke mit Schaudern an die Anfänge, als mir das Ausmaß der Ignoranz bewusst wurde. Ignoranz im sachlichen Sinne, also Unwissenheit (nicht "Dummheit", wie die meisten sagen würden, denn Unwissenheit trifft auch intelligente  Menschen).

Als die Pandemie losging, hatte sich meine fünfundachtzigjährige Mutter die rechte Hand verletzt. Ich war fast täglich bei ihr und half im Haushalt, auch während des Lockdowns. Dass ich extrem vorsichtig war und alle Verhaltensmaßregeln einhielt, ist nachvollziehbar.

Ich war dann entsetzt, dass mitten im Lockdown, also der Verbotszeit, eiskalt Bekannte vorbei schauten, oder der Kaminkehrer kam, oder der Helfer, der einmal jährlich die Gartensträucher zuschneidet. Und die einem zum Teil auch noch die Hand zur Begrüßung entgegenstrecken, so als ob sie in den letzten Wochen keine Nachrichten verfolgt haben.

Was ich merkte: Kaum jemand in meinem Bekanntenkreis hatte die Kraft, solche Besucher zurück zu weisen. Schon gar nicht meine Mutter, die auf die wenigen Kontakte und Hilfen angewiesen ist. Denn die Leute sind schnell beleidigt.


In Gesprächen mit Bekannten merkte ich dann, dass viele gar nicht richtig die Zeitung lasen, oder die Nachrichten im Fernsehen verfolgten. Die lasen offenbar allenfalls Überschriften am Kiosk, hörten allenfalls die drei-Minuten-News auf Bayern 3, und blieben anscheinend bei ihren youtube-Katzen-videos und whatsapp-Diskussionen, statt mal im Internet Nachrichten zu recherchieren. Die es dort in Hülle und Fülle kostenlos gibt.

Es ist schon erstaunlich: da gibt es dieses geniale Informationsportal, das heute jeder über Handy kostenlos benutzen kann, und ein Großteil der Gesellschaft bleibt uninformiert. Das wusste ich schon länger, aber ich dachte, in dieser Notstandsituation, wenn es um eine Pandemie geht, da fangen auch die informationsfaulen Leute an, sich zu informieren.

Da habe ich mich geirrt.


Dass ich in der Zeit vor dem Lockdown täglich die Nachrichten verfolgte und natürlich die Ansprache der Kanzlerin voll anhörte, war für mich eigentlich eine gesellschaftliche Selbstverständlichkeit. Es war schließlich eine Notstandsituation. Da MUSS man sich doch informieren. Und es ging  nicht nur um Selbstschutz, sondern auch um Schutz der anderen.

Für viele andere war das offenbar nicht selbstverständlich. Die wussten nichts von der Ansprache der Merkel, die kapierten nicht, dass es nicht um Selbstschutz, sondern Schutz von Dritten geht, und sie wussten überhaupt viel zu wenig.  Und so blieben viele desinformiert.

Das war die schmerzhafte Erkenntnis in den ersten Wochen der Pandemie. Ich denke, so mancher Leser hat das im eigenen Bekanntenkreis auch erlebt.

Ich bin davon ausgegangen, dass zumindest im Laufe der Monate  die Fakten durchdringen. Das scheint aber arg lang zu dauern. Ende Juni verfolgte ich folgendes Gespräch an einem Markstand. Eine Kundin ohne Maske drängte sich zwischen zwei anderen Kunden in der ersten Reihe, um etwas zu fragen. Die Kundin in der ersten Reihe, natürlich mit Maske, protestierte freundlich. Die sich vordrängende Kundin ohne Maske fauchte "Was beschweren  Sie sich denn, Sie haben doch eine Maske".

Die Antwort war eigentlich klar: "Ja, aber die ist doch für Sie, die schützt doch nicht mich!".

Wieso muss man das vier Monate nach Pandemiebeginn noch jemand erklären?

Bis heute merke ich in Gesprächen: es ist manchen Bekannten immer noch nicht bewusst, dass das die Maske kein Selbstschutz, sondern Fremdschutz ist. Und wir haben jetzt August, bitte schön.

Da wär noch Platz


Ein anderes Erlebnis: drei Wochen nach dem Lockdown gehe ich erstmals wieder vorsichtig in die Stadt. In einer Gasse stelle ich mich, brav maskiert, in ordnungsgemäßen Abstand in eine Schlange, um mir ein Getränk zu kaufen. Eine Bekannte kommt vorbei, natürlich ohne Maske, stellt sich mit ihrem Eis neben mich und ruft zu ihrer Freundin "Ich ratsch mal kurz mit Peter, während du auf das Eis wartest". Und dann sagt sie, auf ihre fehlende Maske und den fehlenden Abstand anspielend "Eigentlich dürfte man das ja nicht. Aber ich bin ja nicht so empfindlich". Ja genau, dachte ich mir. Du bist nicht empfindlich. Der Virus wird dir also nicht viel antun, weil du so kräftig bis. Kann schon sein, aber ICH bin vielleicht empfindlich. Und meine Mutter, die ich morgen wieder besuche. Und wenn du mir den Virus überträgst, sieht es um uns zwei schlecht aus.

Aber ich sagte nichts, dazu war ich zu baff. Es hätte wohl auch keinen Sinn gehabt: die Dame hatte übrigens schon im März in einer Diskussion klargestellt, dass sie das Ganze nicht so ernst nimmt.

Eine Folge der Begegnung war: ich blieb die nächste Zeit wieder brav zu Hause.

So was von selbst ver-arscht

Übrigens: Ist Ihnen das auch schon klar geworden: die Maske dient dem Fremdschutz. Die Angaben im Lokal dem Eigenschutz. Letzteres gibt nämlich nur dann erst Sinn, wenn ich über eine Ansteckungsgefahr informiert werde. Wenn ICH positiv bin, haben meine Angaben überhaupt keinen Wert - ich muss immer noch gesondert das Lokal informieren. Und dazu brauche ich eigentlich die Angaben nicht, ich kann sie auch so informieren.

Der Zettel hat wirklich nur den Sinn, dass man andere Gäste informieren kann, dass ein positiv Getester im Lokal war. So dass diese sich vorsorglich selbst testen kann. Wer hier eine falsche Nummer oder Adresse angibt, hat sich sowas von selbst verarscht. Denn er kann dann einfach nicht informiert werden.


Sahnehäubchen

Und nun zum Sahnehäubchen: etliche Hirne sind so hohlraumversiegelt, da dringt überhaupt nichts durch, was irgendwie stört. Die glauben dann einfach gar nicht an die Gefahr. Sie glauben lieber an Verschwörungstheorien. Und zwar so massiv, dass sie sogar auf die Straße gehen. Und da bleiben wir anderen nur noch ohnmächtig und ratlos.


Da ist kein Platz


Und so bleibt für mich als Resumee der letzten Monate die deprimierende Erkenntnis: Der Virus wird uns noch einige Zeit lang begleiten, die die Dummheit aber noch ganz lange. Dummheit im Sinne von Unwissenheit, und Dummheit im echten Sinne. Sie stirbt nie aus, sondern bleibt Teil der Menschheit.